Jakobi-Treff zum Novemberpogrom 1938: „Wir müssen wieder mehr Mut haben!“
„Das Überschreiten einer Grenze – das Novemberpogrom 1938 in Rheine“ war das genaue Thema des Jakobi-Treffs "Kirche und Welt" im Oktober. Als Referent konnte Karl Wilms diesmal André Schaper begrüßen, der sich als Mitglied in den rheinenser Arbeitskreisen „Gedenken und Erinnern“ und „Stolpersteine in Rheine“ mit den gesellschaftlichen Strukturen in Rheine während des NS-Regimes auseinandergesetzt hat. Dass das Thema Antisemitismus eine fast beklemmende Aktualität hat, zeigen die Vorfälle in Halle.
Schaper ging kurz auf die Vorgeschichte mit der schrittweisen Verschärfung der gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden ein: der Boykott jüdischer Geschäfte ab April 1933, die Nürnberger Rassegesetze mit vollkommenem Entzug der Bürgerrechte ab 1937 und die „Arisierung“ von Geschäften und Unternehmen ab 1938. Als Anlass für die Novemberpogrome nahmen die Nazis das Attentat auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath durch den 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan in der Pariser Botschaft.
In Rheine habe am 9. November 1938 tagsüber wie in den Jahren zuvor auch die hiesige Sturmabteilung (SA) das Scheitern des Hitler-Putsches 1923 zunächst an der Hünenborg gefeiert und sei dann in den Stadtberghof „Eßmann“ eingekehrt, so Schaper . Dass die dann folgenden Ausschreitungen Ausschreitungen keineswegs spontan gewesen waren, sondern zentral gesteuert, zeige das amtliche Fernschreiben an alle Dienststellen im Deutschen Reich, siehe Kasten.
Fernschreiben des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda am Abend des 9.10. 1938 an alle untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapo-Stellen im Reich:
„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. […] Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen.
Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. […]
Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: ‚Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.‘ Dies kann auch erweitert werden auf die Freimaurerei.“
Eine andere SA-Gruppe richtete sich gegen die Synagoge an der Salzbergener Straße, an der Spitze SA-Sturmführer Wilhelm Wösthoff. Schnell sammelte sich eine Menschenmenge. Insgesamt sollen 250 Personen beteiligt gewesen sein. Die SA-Männer drangen in den Gebetsraum ein und entweihten kultische Gegenstände. Die Thora-Rolle wurde entrollt und quer durch den Raum verteilt. Der SA-Mann und Fahrradhändler Max Beilmann brachte die Benzinkanister in die Synagoge. Otto Führer und weitere schoben die Sitzbänke aus Holz zusammen. Dann zündeten sie alles an.
Aus dem Bericht des Brandmeisters Alfred Kugler über den Synagogenbrand:
„Der Feuerwehr wurde gedeutet, das Löschen einzustellen und sich nur auf den Schutz der Nachbarhäuser zu beschränken. Es wurde aber weitergelöscht bis braune Sympathisanten und Uniformierte die Schläuche durchschnitten und das Ankuppeln neuer Schläuche verhinderten. (…) Die Polizei beschränkte sich nur auf Absperrung der Zuschauer. Harte Worte der Kritik von der gesamten Feuerwehr veranlassten den damaligen SA-Standartenführer Zirka zu Drohungen mit Haft oder Einweisung ins Konzentrationslager“.
Auch in Ochtrup, Borghorst, Horstmar, Ahaus, Coefeld, Münster, Warendorf, Ibbenbüren und Lengerich seinen unter anderem die Synagogen zerstört worden, so Schaper. Reichsweit wurden etwa 800 Juden ermordet, 400 davon in der Nacht vom 9. auf den 10. November, wobei man auch von einer unbekannten Dunkelziffer ausgehen muss. Zudem wurden etwa 30000 Juden verhaftet, 1400 Synagogen und Betstuben sowie tausende Geschäfte und Wohnungen zerstört und jüdische Friedhöfe geschändet. Die Schäden, die in dieser Nacht entstanden sind, mussten von den jüdischen Inhaber von Geschäften selbst getragen werden und darüber hinaus mussten diese noch eine „Sühneleistung“ an den Staat abtreten. Insgesamt ließ sich das Regime so von den Versicherungen nahezu 1,2 Milliarden Reichsmark auszahlen.
Erst nach dem Krieg kam es zu strafrechtlichen Verfolgungen: 1948 habe die die Staatsanwaltschaft Münster gegen 90 Personen aus Rheine als Akteure in dieser Nacht ermittelt und 25 von ihnen angeklagt. Als Hauptangeklagter sei dabei Hans Jirka als ranghöchster SA-Führer vor Ort angesehen und damit als „Seele der Judenaktion“ wegen schweren Landfriedensbruchs, schweren Hausfriedensbruch und schwerer Brandstiftung zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt worden – die Staatsanwaltschaft hatte vier Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust gefordert. Auch alle anderen Urteile gegen die als Rädelsführer angesehenen Arthur Lange, Wilhelm Wösthoff, Max Beilmann und Otto Führer fielen milder aus als beantragt. Die Begründung des Gerichts: „Ein Verbrechen der Staatsführung könne bei einzelnen, die sich daran beteiligt haben, strafmildernd auswirken. Außerdem wurde als strafmildernd anerkannt, dass man sich Befehlen nur schwer wiedersetzen konnte.“
Der Platz, an dem die einstige Synagoge stand, wurde 1957 von der Stadt Rheine aufgekauft und 1961 wurde dort jenes Denkmal errichtet, an dem jährlich Kränze zum Gedenken niedergelegt werden.
Die zahlreichen Zuhörern bekamen durch die Darstellung ein Gefühl dafür, wie sehr die andauernde Indoktrination durch die Nationalsozialisten gewirkt hat und wie schnell bürgerlicher Widerstand und Zivilcourage gebrochen werden konnten. Die Diskussion im Anschluss machte deutlich, dass es heute umso wichtiger ist, auch frühen Entwicklungen energisch entgegenzutreten, wenn Minderheiten aus Unwissenheit oder Angst ausgegrenzt werden sollen und dass dabei auch die Zivilgesellschaft und die Kirchen gefordert sind.
Am Ende bedankten sich die Zuhörer für die beeindruckende Darstellung mit herzlichem Applaus und nahmen noch die Gelegenheit war, sich über die Erinnerung von Zeitzeugen auszutauschen.