26. Oktober: Warum treten so viele aus der Kirche aus?

André Ost: „Kleinerwerden akzeptieren und auf die Menschen zugehen“Kleiner werden akzeptieren und auf die Menschen zugehen“

 

Superintendent André Ost referierte im Jakobi-Treff “Kirche und Welt“ über Ausmaß und Gründe von Kirchenaustritten und wie man dem entgegenwirken kann  

 

„Kirche in der Krise - Warum treten so viele aus der Kirche aus?“ war im Oktober das Thema des Jakobi-Treffs „Kirche und Welt“. Referent war Superintendent André Ost, der leitende Theologe des Kirchenkreises Tecklenburg, zu dem auch die beiden evangelischen Kirchengemeinden in Rheine,  Jakobi und Johannes, gehören.

 

Im ersten Teil beschrieb Ost den aktuellen Stand der Kirchenaustritte: War man bisher davon ausgegangen, das 2/3 des Rückgangs auf demografischen Wandel beruhte, so habe sich das aktuelle Bild in den letzten Jahren deutlich geändert: Die Kirchen verlören mittlerweile mehr Mitglieder durch Austritte als durch den demografischen Wandel. Die Projektion der Mitgliederentwicklung des Forschungszentrums Generationenverträge unter Leitung von Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen von 2017, nach der sich bis 2060 die Zahl der Mitglieder der Evangelischen Kirche von Westfalen mehr als halbieren wird, könnte schon bald Makulatur werden. Die Austrittquote hat sich in den letzten 20 Jahren von 0,5% auf rund 1% verdoppelt. Und erstmals 2021 zählte sich weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland zu einer christlichen Kirche (Katholische Kirche 26%, Evangelische Kirche 23,7 %).

 

Die Gründe für Kirchenaustritte sind von verschiedenen Seiten beleuchtet: Traditionsabbrüche in den Familien und die Missbrauchsskandale in den Kirchen seien zwei Gründe für sinkende Mitgliederzahlen in den christlichen Kirchen, so Margot Käßmann, ehemalige Ratsvorsitzende der EKD; lange Zeit hätten die Kirchen gemeint, den Menschen vorgeben zu können, wie sie zu leben haben. "Da wurde Vertrauen verspielt", so die Theologin. Schon jetzt erlebe sie bei Taufen oder Beerdigungen, dass viele die Kirchenlieder nicht mehr kennen oder das Vaterunser nicht mehr mitsprechen könnten. "Kinder wissen nichts mehr von biblischen Geschichten". Und doch seien die Kirchen kein Auslaufmodell. "Sie werden gebraucht, um Menschen Halt, Kraft und Trost zu geben. Die Botschaft von der Liebe Gottes wird gebraucht, um Menschen aufzurichten", so Käßmann.

 

Und Ost weiter: „Der Kirchenaustritt ist nicht einfach nur Ausdruck eines spontanen Ärgers, sondern hat seinen Grund darin, dass Glaube und Religion immer mehr Menschen gleichgültig sind. Die religiöse Indifferenz, die Individualisierung und Pluralisierung sind entscheidende Faktoren. Das wird gerade in der Evangelischen Kirche deutlich. Die Relevanz von Kirche hat sich für viele Menschen deutlich abgeschwächt“.

In einer groß angelegten repräsentativen Untersuchung des sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zeigten sich im wesentlichen folgende Gründe:

 

·        Kaum religiöse Orientierung in der Familie

·        Positive Berührungspunkte mit Kirche im Jugendalter, aber Bedeutungsverlust der Kirche beim Eintritt ins Erwachsenenalter

·        Zunehmende Zweifel durch Verfehlungen der Kirche und mangelnde Differenzierung zwischen den Kirchen

·        Zum Austritt führt oft eine passende Gelegenheit, weniger ein konkreter Anlass

·        Austritt oft motiviert durch veränderte Sicht auf Kirche sowie neue Lebenssituation

·        Bedeutung des Glaubens unabhängig von der Mitgliedschaft in der Kirche

·        Kirchensteuer wurde erst zum Thema, als Zweifel über die Ausrichtung aufkamen

 

Nur selten begründe ein konkreter Anlass die Entscheidung zum Kirchenaustritt, die Entfremdung zur Kirche sei ein Prozess. Der Religionssoziologe Detlef Pollack aus Münster analysiert: „Heute müssen Gründe mobilisiert werden, warum man in der Kirche ist, während früher Gründe für den Austritt gesucht werden mussten“ und „Wer weg ist, den kriegt man kaum wieder.“

 

Wie könne Kirche darauf reagieren?  Man könne einiges lernen von der evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, so Ost. Die habe es geschafft, bei sehr kleinen Gemeindemitgliederzahlen eine Vielzahl von Kirchen zu erhalten und „Kirche im Dorf“ zu leben als sichtbarer offener begehbarer Ankerpunkt.  Mit Blick auf 2030 gelte es, mit weniger Ressourcen trotzdem wirksam Kirche zu gestalten, dazu gehöre die Antwort auf die Frage, wie man die Menschen erreicht und was sie von Kirche brauchen. Dazu gehöre auch eine Veränderung der Rolle des Pfarrdienstes und die Stärkung des Ehrenamtes.  Auch im Kirchenkreis Tecklenburg gebe es eine Vielzahl von Kooperationsmöglichkeiten, sei es im Pfarrdienst, bei Gottesdiensten, im kirchlichen Unterricht oder beim Gebäudemanagement. Zwangsfusionen zu Großgemeinden seien sicherlich nicht der richtige Weg, was vor Ort bleiben wolle, solle leben können, dazu gehöre auch die Weiterentwicklung und Stärkung von ökumenischen Kooperationen.

 

Nicht das objektive Kleinerwerden der Kirche sei das eigentliche Problem, sondern die damit allzu oft verbundene innere Haltung der Resignation. Denn im praktischen Gemeindealltag gehe es um die Frage, wie wir trotz der Situation, in der wir leben, fröhliche Christen bleiben können und wie unsere Verkündigung fröhlich bleibt. Wichtig sei, so Ost, dass die Kirche das Kleinerwerden akzeptiere, dürfe dabei aber nicht resignieren und man müsse wieder lernen, gut über die Kirche zu reden. Dazu gehöre auch, neben dem Sonntagsgottesdienst Berührungspunkte mit Kirche im Alltag zu schaffen, also Präsenz im öffentlichen Raum über Seelsorge, Diakonie, Kinder- und Jugendarbeit und Bildungsarbeit zu zeigen.

 

Die anschließende lebhafte Diskussion machte deutlich, wie wichtig es ist, den Kontakt zu den Menschen zu halten, am Ende dankten die zahlreichen Zuhörer mit herzlichem Applaus.

Erstmals wurde im Jahr 2021 die Kirchensteuer nicht mehr als wichtigster Grund für den Kirchenaustritt genannt. 51,9 % der Umfrageteilnehmer gaben an, vorwiegend aus Unzufriedenheit mit der Institution Kirche bzw. deren Amtsträgern auszutreten.